Katja Wanke
24.02.2022

Bonbonpapier – Junges Schriftstellerhaus

Woran denkst du zuerst, wenn du das Wort "Ticket" hörst? Boardingpass, Festival, SSB oder doch dieser eine Seeed-Song? Der Frage haben sich letztes Jahr die Teilnehmer:innen des Jungen Schriftstellerhauses in Stuttgart gewidmet. Dabei handelt es sich um eine Schreibwerkstatt für Jugendliche und junge Erwachsene, bei der sich Teilnehmer:innen regelmäßig im Stuttgarter Schriftstellerhaus zum gemeinsamen Arbeiten an eigenen literarischen Texten treffen.
Mit freundlicher Unterstützung der Herausgeber und Autor:innen dürfen wir einige Texte in unserem Magazin veröffentlichen – jeder Text handelt von einem "Ticket", jeder Text interpretiert dieses Ticket anders.
Wer "Ticket – zwanzigeinundzwanzig" in voller Länge lesen möchte, kann das Buch hier bestellen.

Bonbonpapier von Jana Bohle

Normalerweise schlief oder las sie im Zug, heute schaute sie raus. Der Vater hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, Kostja erzählte irgendwas von einem Zeichentrickfilm, den er kürzlich bei seinem Freund im Fernsehen gesehen hatte, die Mutter schrieb einen Brief, sie wollte ihn noch abschicken. Die in den Schimmer der Morgensonne getauchte Landschaft zog an ihnen vorbei, verzerrt und verruckelt und Dascha wollte sie festhalten. Sie stellte sich vor, wie sie aus dem Fenster sprang, über das zuvor nie bemerkte Mohnblumenfeld lief und in den schwarzen Tannenwald eintauchte, wie sie von ihm verschlungen und nie wieder ausgespuckt wurde. Der Zug verlangsamte die Fahrt, verschwommene Wiesen und kleine Häuser, die Hügel, Birken und der Fluss, in dem sie jeden Sommer badeten, wurden schärfer. Eine unfreundliche Stimme sagte den Ort an, der Vater öffnete die Augen und Kostja richtete sich auf, wollte aufstehen. Die Mutter hielt ihn zurück. »Wir müssen doch aussteigen, das ist unser Bahnhof.« Seine Augen huschten hin und her. »Heute nicht, setz dich wieder.« Die Mutter strich ihm über den kleinen Kopf. »Ich dachte, wir fahren ins Dorf...« »Hier, iss.«
Kostja biss in den Apfel, den Kopf geneigt, die Augenbrauen zusammengezogen. Wenn er so ernst dasaß und nachdachte, sah er für einen Augenblick lang beinahe erwachsen aus und Dascha musste lächeln. Auf einmal weiteten sich die hellen Augen des Bruders, der grübelnde Gesichtsausdruck verschwand und der Mund mit den dünnen Lippen, den großen Zähnen und der weiten Zahnlücke verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Wir fahren ans Meer, oder?« Triumphierend blickte er Mutter und Vater an. »Ich wollte ja schon immer ans Meer, ich hab es mir doch zum Geburtstag gewünscht und jetzt fahren wir hin!« »Gib mir auch einen Apfel«, bat der Vater die Mutter. »Ihr wolltet mich überraschen, aber ich hab’s rausbekommen! Ich will ja schließlich Detektiv werden.« Dascha zupfte den kleinen Bruder an seinem weit vom Kopf abstehenden Ohr. »Mama, hast du auch sicher meine Badehose nicht vergessen?« Die Mutter blinzelte, schüttelte dann schwach lächelnd mit dem Kopf. Sie zog den Jungen heran, drückte ihn fest an sich und gab ihm einen Kuss auf das blonde, dünne Haar. Dann blinzelte sie nochmal, sah an die Decke, räusperte sich, nahm Daschas Hand und drückte sie, griff nach ihrer abgetragenen Tasche mit den gelben Blumen und begann in ihr herumzuwühlen.
»Wollt ihr ein Bonbon?«, fragte sie und drückte Kostja und Dascha eins in die Hand. »Na und wenn schon, dann kann ich ja auch einfach in meiner Unterhose schwimmen, oder, Mama?« Die Mutter nickte und wandte sich von Kostja ab. Der packte nun sichtlich zufrieden und beruhigt das rote Bonbon aus der knisternden, glitzernden Folie, stopfte es sich mit der dreckigen Hand in den Mund und steckte das Bonbonpapier sorgfältig zusammengefaltet in die Hosentasche. »Kannst meins auch haben.« Der Junge sah die Schwester erstaunt an. »Ich will ja nicht, dass mir meine Zähne ausfallen, so wie dir, du kleine zahnlose Hexe.« Der Mund des Bruders verzog sich zu einem schiefen, ungewollten Grinsen. »Pass bloß auf, sonst verwandele ich dich in eine Kröte oder ein Schwein. Außerdem ist das doch nicht wegen der Süßigkeiten, das sind meine Milchzähne, du Dummerchen.« Sie saßen im Zug und wie er sie so immer weiter forttrug, gab sich Dascha den Erinnerungen hin, während Kostja sich ihre Spaziergänge im Sand und das Baden im Meer ausmalte. Sie dachte daran, wie wenig sie mitgenommen hatten, und stellte sich vor, wie die dumme, dreiste Nina aus dem achten Stock in Daschas Kleidung über den Hof stolzierte, wie ein aufgeblasener Gockel. In Daschas rot lackierten Sandalen mit den kleinen Absätzen und den Schnallen, die sie zum neuen Jahr bekommen hatte. Sie wünschte sich, dass die dumme Kuh Nina Blasen an den Füßen bekam. Wenigstens musste sie nun nie mehr etwas mit der zu tun haben, lachte sie bitter in sich hinein, doch dann erschien ihr dieser Umstand nicht mehr so aufmunternd, sie bekam Gewissensbisse und fragte sich, ob sie Nina vielleicht nicht doch Unrecht getan hatte und ob sie eigentlich nicht doch ganz nett gewesen war.
Papa, erzähl mal eine von deinen Geschichten.« Kostjas Bitte brachte Dascha ins Abteil zurück. Der Vater zögerte, begann dann aber doch zu sprechen, konnte den gewöhnlich lustigen Tonfall seiner Erzählungen jedoch nicht treffen, woraufhin Kostja begann, sich zu langweilen und der Vater verstummte. »Lass uns doch ein bisschen durch den Zug laufen.« Dascha zog den kleinen Bruder an seiner klebrigen Hand hoch, und schon liefen die beiden über die schmuddeligen, blau-grau karierten Teppichböden der Zugflure, die nach verbranntem Mais rochen. Kostja hüpfte abwechselnd erst auf dem rechten, dann auf dem linken Bein durch die schmalen Gänge und Dascha tat es ihm nach, nicht ohne sich zuvor zu vergewissern, dass sie allein waren und sie von niemandem gesehen wurde. Manchmal wurde der Zug heftig durchgerüttelt und die zwei Beinhüpfer verloren das Gleichgewicht und knallten an die Wand, brachen in glucksendes Lachen aus und sprangen weiter. Nach einer Weile, rot angelaufen und außer Atem, machten sie Halt vor einem Abteil, aus dem es nach gekochten Eiern roch. Eine alte Frau, runzelig wie eine Rosine, saß auf der besudelten Bank, auf der schon mancher Besucher seinen Kaffee, seinen gezuckerten Tee und wer weiß was sonst noch alles verschüttet hatte. Die Geschwister ließen sich auf den gegenüberliegenden Sitzen nieder, und während Kostja die Alte, die träge ein Ei schälte und es sich dann am Stück in den Mund schob, mit großen Augen anstarrte, verfiel Dascha wieder ihren Gedanken. Als sie bemerkte, dass Kostja die alte Frau ansah, stieß sie ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, woraufhin der Bruder sich hastig abwandte und anfing, Dascha das Zimmer seines Freundes zu beschreiben. Kostja plapperte vergnügt vor sich hin, ließ sich nicht stören durch die kargen, halbherzigen Antworten der Schwester, während Dascha an ihr altes Leben dachte, und an ihr kommendes. Sie stand auf, ging zum klappernden, einen Spalt breit offenen Fenster, rüttelte daran und schaffte es, es aufzuschieben, worauf das Fenster ein klägliches, kreischendes Quietschen von sich gab, was den kleinen Bruder nicht davon abhielt, unbeirrt weiterzureden.
»Du bist so ein Plappermaul«, lachte sie, »wie können aus einem so kleinen Menschlein bloß so viele Wörter rauskommen?« »Und du bist stumm wie ein Fisch.« Er trat zu ihr. Die Rosinenfrau schaute sie böse an und zog das Tuch mit den grellen, kitschigen Rosen enger um die Schultern. Dascha streckte den Kopf aus dem Fenster, und der Wind riss an ihren Haaren. Sie sah in das schwere Himmelsmeer mit den weißen Wellenwolkenkronen, das über ihren Köpfen hinfortzog. »Ich will auch schauen«, klagte Kostja auf Zehenspitzen. »Ne, du«, schüttelte sie mit dem Kopf, »tut mir leid, aber wenn ich dich hochhebe, platzt mir der Bauchnabel.« Der Bruder schnitt eine Grimasse, und die Rosinenfrau hustete vorwurfsvoll. Dascha streckte die Hände aus dem Zug und stellte sich vor, wie sie den sausenden, singenden Wind packte, ihn festhielt, in ihrer Sommerkleidtasche verstaute und ihn mitnahm. Die Frau hustete wieder. »Dascha, nur ganz kurz!« »Na gut.« Sie zog den Bruder vor sich, umschlang ihn und hievte ihn hoch, sodass er einige Augenblicke lang die Arme aus dem hochgelegenen Fenster hielt und den Wind fing. Die Rosinenfrau hustete aufdringlich. »Komm, wir gehen zurück«, sagte Dascha und ließ das Fenster absichtlich offen.
Der zweite Zug war viel größer und trug viel mehr Menschen in sich. Der Gestank von Kunststoff zog sich durch die überfüllten Waggons, vermischt mit dem beißenden Geruch von Schweiß und Erschöpfung. Einige Passagiere hatten sich in den Gängen breit gemacht, und vor der Schiebetür saß eine Frau, die sich auf einer fremden Sprache mit ihrem rothaarigen Kind unterhielt. Die Familie teilte das Liegewagenabteil mit einem Ehepaar mittleren Alters, das versucht hatte, ein Gespräch mit der Mutter und dem Vater anzufangen, sich aber aufgrund der reservierten, leeren Antworten der Eltern der Beschäftigung hingegeben hatte, über irgendwelche Verwandten und Bekannten herzuziehen. Auf der harten, oberen Pritsche liegend und ihrem Gespräch lauschend, erfuhr Dascha pikante Details aus Vera So-und-Sos und Slava Dies-und-Das’ Eheleben und als sie des Tratsches müde wurde, versuchte sie Wortfetzen aus der Unterhaltung der Frau und des rothaarigen Kindes, die durch die offene Tür in das Abteil drang, aufzufangen. Kostja, früh morgens noch so aufgeweckt, wuselte ungeduldig und quengelig auf der Sitzbank unter Dascha herum und die Mutter versuchte ihn mit dem Vorlesen von Märchen abzulenken, bis der sonst nachsichtige Vater ihn scharf ermahnte. »Dascha, läufst du mit mir durch die Gänge?« Kostjas verletzte Miene tauchte am Liegenrand auf. »Ne, jetzt nicht, ich bin müde.« »Du liegst hier doch die ganze Zeit bloß rum.« »Kostja, ich hab gerade keine Lust.« »Lauf doch ein bisschen mit ihm«, die müden Augen der Mutter lugten unter der Pritsche hervor. »Ich gehe mit dir, Kostja«, der Vater stand auf, und die zwei verschwanden aus dem Abteil. Schon als sie eingestiegen waren, war der Zug Dascha fremd erschienen. Er war ihr unsympathisch. Am meisten nahm sie ihm übel, wie schnell er durch die Landschaft hetzte, so schnell, dass die Welt hinter dem Fenster zu einem vagen, austauschbaren Farbklecksgemisch verschwamm.
»Dascha, komm runter zu mir.« Sie richtete sich auf, gekrümmt, um nicht an die Decke zu stoßen, schlug die Beine über die Pritsche und ließ sich hinuntergleiten. Sie saß lange mit ihrer Mutter, die sie fest umschlungen hielt und ihr über das Haar strich, bis Dascha sich klein vorkam und dann verstand, dass sie noch klein war. Als Kostja und der Vater versöhnt zurückkamen, setzte er den Jungen auf die Sitzbank, beugte sich zu ihm herunter und sprach gedämpft zu ihm. »Du, schau mal, Kostja, wir haben uns ja gerade sehr lange unterhalten, jetzt ruh dich doch ein bisschen aus und leg eine Pause mit dem Reden ein, gut?« Der kleine Bruder nickte und bat die Mutter um etwas zu essen. Nach einer Weile, Kostja war tatsächlich eingenickt und auch die Eltern hatten sich ein wenig in den Schlaf geflüchtet, während Dascha versucht hatte, die vorbeirasende, verschmierte Landschaft aufzusaugen, wurde der Bahnhof angekündigt, und einige Minuten später fuhren sie im kreischenden Zug ein. Durch das Glas der Abteiltür sah Dascha, wie die Frau im Zugflur aufstand, ihren Rock glattstrich, sich zum rothaarigen Kind hinunterbeugte, ihm die Nase putzte, ihren gelben Koffer packte, das Kind an der Hand nahm, sich nochmal rasch umblickte und zügig im Gang verschwand. Das Ehepaar blieb sitzen. Sie saßen lange.
Kostja wachte auf, schlecht gelaunt. Die Mutter biss auf ihrer Lippe herum. Der Vater sah aus dem Fenster. Und Dascha wollte nach Hause. »Ist das normal? Wieso stehen wir denn so lange?«, sah die Mutter den Vater schließlich an. »Ach ja, das ist immer so, man wechselt gerade bestimmt die Zugräder. Die haben da nämlich andere Schienen, deshalb wechselt man hier immer die Räder, um weiterfahren zu können, das dauert immer so lange.« Die rotwangige Ehefrau riss die Augen und den Mund zu einem riesigen Lachen auf.
»Ah ja, nur dachte ich, es würde etwas schneller gehen.« Die Mutter lächelte höflich und im Blick des Vaters blitze für einen Moment ein Vorwurf auf. »Nein, nein«, versicherte die Ehefrau mit einer aufdringlichen Freundlichkeit, »das dauert immer so lange.« Ihr Ehemann nickte. »Und Sie, besuchen Sie auch Verwandte?« »Wir fahren ans Meer!« posaunte Kostja stolz heraus, und für einen kurzen Moment war es still. »Ah, das ist ja fabelhaft!«, wieherte die Ehefrau dann, und der Ehemann sagte: »So, so, ans Meer? Und, gehst du da auch schön fischen?« »Oh ja, bestimmt, ich fische sehr gut.« Den düsteren Blick des Vaters bemerkend verstummte Kostja. »Ach ja, ans Meer würde ich auch gerne«, seufzte die Ehefrau, »wir besuchen meine Cousine, ja, das ist auch schön.« Mit einem schmalen Lächeln antwortete die Mutter: »Wir besuchen meine Schwester.« »Ach, schön«, seufzte die Ehefrau und dann redete niemand mehr. Und da der erneute Versuch, eine Unterhaltung anzufangen, wieder gescheitert war, wurde das schreiende Grinsen der Ehefrau etwas kleiner und sie wandte sich an den Ehemann: »Lass uns doch in den Speisewaggon gehen, ich habe Hunger«, und die beiden verließen, der Gatte gehorsam hinter der Gattin trottend, das Abteil. Als sie die Tür hinter sich zugeschoben hatten, wandte sich der Vater an Kostja. »So, jetzt hör mir mal gut zu«, setzte er in ungewohntem Tonfall an. »Ich habe dich vorhin gebeten, dass du dich mit deinem Geplapper zurückhältst. Anscheinend hast du mich nicht verstanden, oder wolltest mich nicht verstehen, deshalb sage ich es dir jetzt ganz deutlich, ich will ab jetzt kein Wort mehr von dir hören, bis ich dir wieder erlaube, zu reden. Verstanden?« Der kleine Bruder nickte kleinlaut und sah blinzelnd weg. »Ich gehe raus, ich brauche frische Luft.« Und Dascha, Kostja und die Mutter blieben alleine zurück.
»Halte dich an das, was Papa gesagt hat«, sagte die Mutter kühl. Die Dämmerung hatte sich bereits über den Bahnsteig gelegt, auf dem sich noch immer unzählige Reisende tummelten wie bunte, hastende Ameisen, als die Tür geöffnet wurde und ein uniformierter Mann eintrat. Er begrüßte die Insassen und wandte sich dann an die satten Eheleute, fragte sie aus, betrachtete sie und ihr Gepäck. Der Mann in Uniform war nicht sonderlich groß, er hatte einen Dreitagebart, der an einigen Stellen dichter, an anderen kahler war, und die Haut unter den sich lichtenden, dünnen Haaren glänzte fettig im flimmernden Licht der Abteillampe. Seine Augen waren hell und glasig und ausdruckslos und sein Gesicht mit den dicken Lippen erinnerte Dascha an einen gemeinen Fisch. Als er mit der Befragung der Eheleute endete und sich zu der Familie umdrehte, traf sein Blick ihren und sie sah zu Boden. »Guten Abend. Was führen Sie mit sich?« fragte der uniformierte Mann mit schmieriger und fester Stimme. Der Vater deutete auf die Koffer unter ihrer Sitzbank.
Der Mann begann sie auszufragen, wollte den Ausreisegrund wissen, fragte nach Ausweisen und Dokumenten, hakte nach, wollte die Ausweise nochmal sehen. Der Vater übernahm das Reden. Die Augenbrauen zusammengezogen antwortete er ernsthaft und bestimmt und fummelte mit seinen Fingern am untersten Knopf seines Hemdes herum. Dascha, Kostja und die Mutter saßen schweigend daneben. Dascha wippte mit dem rechten Bein, tippte mit der Fußspitze auf den grauen Kunststoffboden. Die Mutter sah kurz hin und legte die Hand auf ihr Knie. Die Zeit schien zu kriechen und der Uniformierte zog sie lang wie ein durchgekautes, fades Kaugummi. Schließlich musterte er den Vater, die Mutter und Kostja genau. Dann blieb sein Blick an Dascha kleben und sie dachte an die dicken, lästigen Fliegen, die im Sommer an den gelben, bekleisterten Papierstreifen, die sie immer in der Küche aufhängten, hafteten. Sie zog ihren Kleidersaum weiter runter über ihre Beine. Der uniformierte Mann drehte sich weg, sah noch einmal zurück, verabschiedete sich und ging.
Kurz darauf ertönte ein schriller Pfiff, und sie konnten wieder atmen. Die Furche auf der Stirn des Vaters glättete sich, und er versuchte, durch einen Witzsein vorheriges strenges Verhalten wiedergutzumachen. Die Mutter lachte über den Scherz mit dem ersten ehrlich klingenden Lachen, seit sie die Zugreise angetreten hatten. Der Vater nahm Kostja auf den Schoß, und die Mutter entzückte sich über den beigen Sommermantel der mitreisenden Ehefrau. Die schwarze Angstgewitterwolke, die auf die Familie gedrückt hatte, schien sich aufgelöst zu haben, auseinandergeweht vom Fahrtwind des Zuges, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Und doch spürte Dascha, wie stattdessen eine zwickende Ungewissheit ihren Platz einnahm, und sie war sich nicht sicher, was stärker auf ihr lastete, die verflogene Angstwolke oder das eingetretene Gefühl von Verlorenheit. Bald überfiel die Müdigkeit die Familie und auch das Ehepaar wirkte welk und erschöpft. Die Sitzbänke wurden umgebaut, die mittleren Liegen ausgeklappt und nach den Gutenachtküssen verzog sich jeder auf seine Pritsche unter die dünnen, weiß-gelblichen Laken. Das Licht wurde gelöscht. Dascha hörte, wie Kostja sich unter ihr im Bett wand und dann ertönte seine leise Stimme in der Dunkelheit.
»Dascha?« »Hm?« »Kann ich zu dir?« »Mhm.« Der Bruder zog sich hoch, sie half ihm, und er kroch unter die Bettdecke. »Bäh, hast du kalte Füße, wie ein Frosch.« Er kicherte, dann herrschte Stille. Als Dascha kurz an der Schwelle zum Schlaf stand, flüsterte Kostja etwas, und sein warmer Atem kitzelte sie im Ohr. »Hör auf, mir so in die Ohren zu pusten.« Es war kurz leise, dann flüsterte der kleine Bruder wieder: »Du, Mama hat davor doch gesagt, dass wir ihre Schwester besuchen. Aber Tante Nadja wohnt doch gar nicht am Meer.« Dascha antwortete nicht, und es legte sich erneut ein Schweigen, das gelegentlich vom dröhnenden Schnarchen des mitreisenden Ehemannes durchbrochen wurde, über das Abteil. »Kostja?« Sie drehte sich auf die andere Seite. »Hm?« »Schläfst du schon?« »Ja.« Sie lächelte. »Ich hab dich lieb.« »Du bist auch ganz in Ordnung.« Er zog die Decke stärker zu sich, »und jetzt Scht.« Sie lachte. In der Nacht träumte sie, vom ratternden Zug auf ihrer Pritsche hin und her gerüttelt, wie im Bauch eines Kutters auf stürmischer See, von ihrem Haus. Es war im Meer versunken.
Collage von Leonie Bucher.

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