Stuttgart autofrei?

30. März 2022

Unsere neue Kolumnistin Louisa Schneider ist Klimaaktivistin und Moderatorin aus Stuttgart. Ihr kennt sie ja bereits als Wunderkind. Wer regelmäßige Updates zur Klimakrise und zu politischen Entwicklungen sucht, ist unter anderem auf ihrem TikTok-Kanal goldrichtig. Und auch hier widmet sich Louisa einem klimarelevanten Problem, beziehungsweise einer schwerwiegenden Ehekrise: Stuttgart und das Auto – ist eine Scheidung denkbar?

Es gibt vier Phasen der Trennung: Schock, Zorn und Traurigkeit, Selbstreflexion und Neuorientierung, Neuanfang. Durch diese Phasen muss Stuttgart jetzt auch durch. Keine Sorge, ich habe Eiscreme und eine Schulter zum Ausweinen parat. Was wäre der Marienplatz ohne das Reifenquietschen auf der B14 nebenan? Was wären romantische Spaziergänge ohne langes Schmusen an Ampeln, während man gemeinsam auf die roten Leuchten starrt? Was wären unsere Herzen ohne dieses heftige Klopfen, wenn wir an der Theodor-Heuss nur ganz fast, aber wirklich nur fast, von einem rasenden Auto-Proll überrollt worden wären? Ach herrje, Stuttgart. Ich glaube wir sollten die rosarote Brille mal vom Feinstaub befreien. Also nochmal von Anfang:

Erste Phase: Schock

Stuttgart ohne Auto? Die Stadt ist doch treue Lebensgefährtin der Daimler und Porsche AG. Sind dann nicht autofreie Innenstädte wie eine Beziehung ohne Sex? Mit großer Mehrheit in den Stadträten wurde im September 2021 eingewilligt, dass Stuttgart schrittweise umgebaut werden soll. Projekt „Lebenswerte Innenstadt Stuttgart“ nennt sich das Konzept. Dafür sollen 350 Stellplätze innerhalb des Cityrings weichen, es soll versenkbare Poller an einzelnen Straßenabschnitten geben und bald darf man mit dem eigenen Rennwagen nur noch mit 20 km/h durch die City schleichen. Dafür sollen dann eher Bäume, Restaurants, Cafés oder Radwege entstehen. Mensch. Schön! Und plötzlich ploppen vor meinem inneren Auge ganz viele neue Plätze wie das oberste Parkdeck des Züblin Parkhauses auf. Graffiti, Kunst und Kultur an den grauen Betonwänden, Bänke aus Palletten und Holzkisten gefüllt mit Erde nach dem Motto: Ackerbau statt Autos. Stuttgart, könnte das unsere Zukunft sein?

Zweite Phase: Zorn und Traurigkeit

Es ist ja oft so: Ein Part will die Scheidungspapiere direkt und sofort unterschreiben, der jeweils andere Part hat es nicht so eilig. Man kann ja nochmal drüber sprechen, vielleicht klappt’s ja doch? Irgendwie? Und sagen wir es mal so: Ich würde dem Notar die Scheidungspapiere aus der Hand reißen und direkt unterschreiben. Im Stuttgarter Rathaus ist man noch unentschlossen. Im Gemeinderat gibt es zwar eine Mehrheit für das Konzept, noch sind aber nicht alle komplett überzeugt. Und auch die restlichen Deutschen wissen noch nicht so recht, auf welche Seite sie sich stellen wollen. Laut einer bundesweiten Umfrage sind 52% bereit für die endgültige Scheidung zwischen Stadt und Auto. Gleichzeitig sehen in Baden-Württemberg 70% zwar die Chancen für autofreie Innenstädte, aber haben recht wenig Zuversicht, dass wir den Wandel so einfach wuppen werden.

Dritte Phase: Selbstreflexion und Neuorientierung

Denn wie so oft bei Trennungen sehen wir erstmal nur den Verlust und heben den Partner noch einmal auf ein Treppchen empor. So schlimm war es doch gar nicht, oder? Vergessen ist alles Negative. Ob der Partner jetzt viel getrunken, gerülpst oder gefurzt hat oder – wie in unserem Fall – Feinstaub, Lärm und Unfälle verursacht hat. Ganz zu schweigen von all dem Platz, den wir ohne Autos plötzlich hätten. In Stuttgart sind 350.000 Autos gemeldet. Um diese Unsummen zu parken bräuchten wir eine Fläche von 350 Hektar. Vergleich: Stuttgart-Mitte hat eine Fläche von 380 Hektar. Wo also hin mit all den Autos? Selbst wenn wir sie jetzt mit E-Autos austauschen würden? Aber wie man so schön sagt: Schließt sich eine Tür, öffnet sich die andere. In Berlin haben sich zum Beispiel einige Türen geöffnet. Ein Abschnitt der Friedrichsstraße in Berlin-Mitte wurde vor anderthalb Jahren für Autos gesperrt. Und siehe da: Die Straße zieht deutlich mehr Menschen an, die dort länger verweilen und über die Straßen schlendern.

Vierte Phase: Neuanfang

Ich poliere die letzten Staubpartikel von meiner rosaroten Brille und setze sie mir wieder auf. Stuttgart ohne Auto – fehlt der Stadt dann nicht der Charme? Wohl kaum. Eher würde sie an Reiz gewinnen und vermutlich neue Lover anziehen. Ich hole schon mal die Eiscreme. Stuttgart, du bist stark. Mach dein Selbstwertgefühl nicht von deinem Partner abhängig. Du schaffst die Zukunft auch ohne Auto!