Second Hand Shopping: auf Schatzsuche in Stuttgart

7. Juni 2022

Unsere Kolumnistin Louisa Schneider ist Klimaaktivistin und Moderatorin aus Stuttgart. Ihr kennt sie ja bereits als Wunderkind. Wer regelmäßige Updates zur Klimakrise und zu politischen Entwicklungen sucht, ist unter anderem auf ihrem TikTok-Kanal goldrichtig. In dieser Kurzstrecke stöbert Louisa durch die Vintage-Schätze der Tübinger Straße und erklärt, weshalb die Mode der älteren Generationen zur Zukunft der neuen Generation werden sollte.

Ich war geschockt. Ich soll die über 30 Jahre alte Bauchtasche meiner Mutter wegwerfen?! Dabei habe ich sie doch hergebracht, damit sie geflickt wird. Nur der Reißverschluss kaputt. „Kaufen Sie lieber direkt eine neue! Dann kommen Sie viel, viel günstiger davon! Reparieren lohnt sich nicht.“ – Um Himmelswillen! Nein! Sie hat Style, sie hat Geschichte. Sie hat Bedeutung. Wie so ziemlich alles im Second  Hand-Store namens „Mama“. Vielleicht bin ich gerade etwas sauer. Weil da so viel mehr hinter dieser simplen Aussage steckt.

Sehen wir die Bedeutung aus zweiter Hand nicht mehr?

Gehe ich in einen der unzähligen Second Hand Stores in der Tübinger Straße, dann schreien mir die Geschäfte förmlich zu. Die Lederjacke im Schaufenster bei Second Dreams ruft: „Mich hat vielleicht schon Bradley Cooper getragen!“, die pinke Bluse im Vintage Markt seufzt: „Als Therese mich trug, hat sie gerade die Scheidung eingereicht“ – und der Goldring, den ich für 2 Euro aufm Flohmarkt beim Marienplatz ergattert hatte, nickt bestätigend. „Günther und Therese – 01. 01. 1968“, ist tief in der Innenseite des Rings eingraviert, was ich erst kurz nach dem Kauf bemerkte. Kein Wunder, dass die Verkäuferin ihn mir unbedingt andrehen wollte. Allesamt kleine Schätze, die Geschichten erzählen.

Apropos Schatz: Das Schönste an Schätzen ist doch die Suche nach ihnen.

Ich fühle mich jedes Mal wie eine wahrhaftige Abenteurerin. Nicht wie Dora auf Nickeloadeon. Eher so wie Frodo bei Herr der Ringe. Fröhlich stolziere ich durch den Stadtbahn-Dschungel am Charlottenplatz und steige in die U1 nach Stöckach. Zielstrebig steuere ich die Second Hand-Boutique an. Meine Augen funkeln, als ich die Tür aufdrücke. Es eröffnet sich vor mir ein Dickicht aus buntesten Taschen, modrig riechenden Mänteln und etwas zu oft mit Weichspüler gewaschenen Pullovern – ja, auch ein Gestrüpp aus BHs steht neben mir als „Wühltisch“ bereit. Ich gehe etwas beschämt daran vorbei. Aber sollte uns Menschen nicht etwas ganz anderes beschämen?

Bei Fast Fashion stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mindestens vier Fliegen mit einer Klatsche, denke ich mir oft. Ich kaufe „neue“ Kleidung, spare dabei Geld, es macht Spaß, es ist nachhaltiger – das gute Gewissen kommt dabei gratis obendrauf. Denn: Fast Fashion? Wer kann denn da noch beherzt mitmachen?! Wie Zombies passen wir uns den neuen Kollektionen im Drei-Wochen-Takt an. Keine Kreativität bleibt uns – die Styles sind gesetzt, die Trends werden vorgelebt. Behalten, ausprobieren und neu kombinieren? Fehlanzeige. Da wird das Top vom letzten Jahr doch eher in die Altkleiderspende gegeben. Doch etwas Gutes tun wir damit definitiv nicht. Wenn laut eines Berichts von Greenpeace täglich 150-200 Tonnen an Kleidung nach Kenia verschifft werden und dort im Nairobi River landen. Nur ein Bruchteil kann weiterverkauft oder geschweige denn „downgecycelt“ werden. Stattdessen wird die Kleidung verbrannt oder sie liegt dort rum, bis der Fluss auch die letzten Reste der Chemikalien im billigen Fast-Fashion-Gewebe des Shirts in die Natur gespült hat. Ganz zu schweigen davon, dass darunter die Wirtschaft vor Ort leidet und kolonialistische, ausbeuterische Strukturen unterstützt werden und florieren.

Einatmen. Ausatmen.

Ich starre auf den hübschen Hinterhof vom Vintage Markt. Mit meiner Kleiderauswahl überm Arm, drehe ich mich rum und gehe in die Umkleidekabine. Warte. Was? Das ist er ja! Mein Schatz! Wie Gollum reiße ich die Hose an mich. Von Frodo ist jetzt nichts mehr übrig. Sie passt wie angegossen! Bestimmt schon 10 Jahre alt, aber der Stoff so gut, dass es noch weitere 20 Jahre aushalten könnte. Glücklich nehme ich meinen Kauf vom Tresen, verstaue das Rückgeld in meiner Bauchtasche. Der Reißverschluss funktioniert wieder zu. Zum Glück hab ich sie nicht weggeworfen.