Politicket – Junges Schriftstellerhaus

14. Januar 2022

Woran denkst du zuerst, wenn du das Wort „Ticket“ hörst? Boardingpass, Festival, SSB oder doch dieser eine Seeed-Song? Der Frage haben sich letztes Jahr die Teilnehmer:innen des Jungen Schriftstellerhauses in Stuttgart gewidmet. Dabei handelt es sich um eine Schreibwerkstatt für Jugendliche und junge Erwachsene, bei der sich Teilnehmer:innen regelmäßig im Stuttgarter Schriftstellerhaus zum gemeinsamen Arbeiten an eigenen literarischen Texten treffen.

 

Mit freundlicher Unterstützung der Herausgeber und Autor:innen dürfen wir einige Texte in unserem Magazin veröffentlichen – jeder Text handelt von einem „Ticket“, jeder Text interpretiert dieses Ticket anders.

 

Wer „Ticket – zwanzigeinundzwanzig“ in voller Länge lesen möchte, kann das Buch hier bestellen.

Politicket von Felicitas Kaiser

 

Noch vor fünf Jahren hatten die werten Herren sie ausgelacht. Vor fünf Jahren war Louise gerade frisch gewählt worden und sie erinnerte sich nur allzu gut an die erste Sitzung des »Ausschusses für grüne Zukunft und Förderung zukunftsweisender grüner Technologien und Konzepte«. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung im Raum, die Sonne schien durch die Fenster im alten Gebälk und warf ihre warmen Strahlen über den Konferenztisch, an dem – die Protokollführerin und sie ausgenommen – ausschließlich Herren saßen. Kurz vor Sitzungsbeginn kam noch eine ältere Dame hereingeschlichen und setzte sich auf ihren Platz schräg gegenüber von Louise. Der Neujahrsempfang war erst eine Woche her. Eine ganze Legislaturperiode lag vor ihnen, genug Zeit, drängende Fragen nicht zu vertagen, um wirklich etwas anzupacken, Veränderung zu wagen! Der Herr ihr gegenüber hatte sich im Sitz zurückgelehnt, die Hände auf dem imposanten Bauch gefaltet, und raunte seinem Sitznachbarn etwas zu, der an seinem Glas mit überteuertem Mineralwasser nippte und sich ein Kichern verkniff.

»Sonstige Wortmeldungen?« Der Vorsitzende, ein nicht ganz so alter Mann mit Glatze, blickte vom Kopfende des Tisches aus in die Runde. Sein Blick streifte ihren, als wüsste er schon, dass sie das Wort erheben wollte. Immer mit der Ruhe. Louise strich über das Blatt vor ihr auf dem Tisch, dessen Worte sie längst auswendig kannte. Sie wandte sich Richtung Fenster, wobei sie die Augen für einen Moment schloss und die Strahlen der Sonne spürte. Atmen. Pausen nicht vergessen. Zwar gab es an jedem Platz ein Mikrofon ähnlich dem an einem Redepult, doch das war ihr nicht geheuer, bei der Vorstellungsrunde neulich hatte es sie angefiept. Oder was, wenn ihre Stimme überlaut in den Raum schallte? Louise wischte sich die Hände an der Hose ab und stand auf, so war es ihr lieber. Sie räusperte sich und wie eine Welle hoben sich ringsum die Augenbrauen. Ein letztes Getuschel vom Herrn gegenüber, dann hatte sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Neugierige Blicke, abschätzige Blicke.Und der Blick des gutaussehenden jungen Mannes drei Plätze rechts von ihr. »Guten Abend. Ich möchte eine Idee meiner Partei vorstellen und Sie in gewisser Weise vorwarnen. Es geht um den öffentlichen Nahverkehr…

«Einige Augenbrauen verloren sofort an Höhe und der Nachbar vom Mann gegenüber ruckte auf seinem Sitz, wobei er ganz sicher sein Handy herausholte. Ja, da senkte sich schon sein Kopf. Was wird das, eine Runde Candy Crush? Louise merkte, wie sie rot wurde und ihre Hände wieder schwitzig, wie sie mit ihnen an der Hose herumnestelte. Eine Locke, aus dem sorgsam gesteckten Dutt entsprungen, kitzelte sie an der Nase, doch sie riss sich zusammen und legte die Hände mit etwas zu viel Wucht auf den Tisch. Der Handyherr sah wieder auf. »Wir wollen ein Papier mit konkreten Plänen für einen Nulltarif einreichen, das heißt, keine Bus- und Bahntickets mehr, die Beförderungserschleichung kann getrost aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, denn wir fordern: Freie Fahrt für alle! «Ein schöner Slogan, den sich ihre Partei da ausgedacht hatte. »Das soll Menschen von den verstopften Straßen auf die Schiene holen«, fuhr Louise fort, »das wird der erste Schritt hin zu einer nachhaltigeren Mobilität… «Jetzt war es raus, doch schon auf halbem Weg durch die sorgsam geplanten Worte fühlte sie sich, als würde sie gerade etwas Dummes sagen. Das Gelächter ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Gegenüber schlug sich auf den Bauch und lachte, verschob dabei den Tisch. Louises Backen verdunkelten sich, ihr war heiß mitten im Rampenlicht der Sonnenstrahlen. Sie versuchte, die Fassung zu wahren, langsam ein- und auszuatmen, doch man hätte im ganzen Raum das Zittern in ihrem Atem gehört, wäre da nicht das schallende Gelächter gewesen.

Weit aufgerissene Münder mit schwabbelnden Kinnen und röhrenden Kehlköpfen, gerade Zähne und gepflegte Lippen mit zusammengekniffenen Augen. Lachtränen in allen Augenwinkeln. Eine zarte Seifenblase an Selbstbewusstsein über Louises Kopf kam ins Zittern, ins Trudeln und dann fiel sie mit einem Plopp in sich zusammen. Klebrige Tröpfchen landeten vor ihr auf dem Tisch. Sie schillerten verloren neben all den mikroskopisch kleinen Spucketröpfchen, die von dem Lachen herabregneten. Louise zwang sich, bis zehn zu zählen, standhaft zu bleiben, während die menschlichen Unlaute HAHAHA auf sie herabbrausten wie eine kalte Dusche. Es wird nicht leicht, das wusste ich, das haben mir alle gesagt. Bei fünf angekommen knickten ihre Beine ein und sie versuchte noch, sich so langsam und würdevoll wie möglich wieder hinzusetzen. Aber das war längst egal. »Was denn noch?«, rief ein Kollege, »kostenloses Wasser?« Er prostete Louise zu. »Jedem ein Fahrrad schenken? E-Auto für jedermann… und jede Frau?« »Nee«, lachte ein anderer, »als Nächstes kommen die mit bedingungslosem Grundeinkommen oder warte, warum nicht mit den Tickets zusammen auch gleich das Geld abschaff–« »Ruhe! Ruhe!«, rief der Vorsitzende und Louise war ihm dankbar, bis sie sah, dass es auch um seine Mundwinkel zuckte. Angewidert wandte sie sich ab. Das Lachen verebbte, doch dessen Echos hallten weiterhin durch ihren Kopf. Sie sah in keines der roten Gesichter, suchte nicht nach dem Trost ihrer Parteikollegen, die heute allesamt nicht da waren. Absichtlich? Sie blickte hilfesuchend zur Protokollantin, die jedoch unbeteiligt mit ihren perfekt manikürten Händen auf ihrem hochwertigen Papier das Geschehen festhielt. »Meine Herren, ich darf doch wirklich bitten, das ist kein Umgangston!«, mahnte der Vorsitzende. Heuchler!

Da bog die ältere Dame gegenüber ihr Mikro zurecht, erhob das Wort. Sie hatte nicht so sehr gelacht. »Ich halte das für eine außerordentlich gute Idee!«, erklang ihre Stimme klar im ganzen Raum. Louise schöpfte Hoffnung, doch begeistert sah die Dame nicht aus. »Eine radikale Forderung ist angesichts der Krise in Ordnung, aber wenn ihr groß denkt, dann doch bitte bereichsübergreifend, sonst bringt uns das nicht weiter.« Sie sah Louise direkt an. Das Gehör der ganzen Runde auf die Dame gerichtet. Selbst Handyherr ganz gebannt. Stille in dieser stilvollen Pause. »In welchem Gesamtkonzept steht diese Maßnahme?«, fragte die ältere Dame. Louise holte Luft, aber spürte alle Blicke auf sich, spürte sie starren. Gesamtkonzept… Alle warteten, lauerten auf einen Fehltritt, logische Verstrickungen. Sekunden verharrten ewig an Ort und Stelle. Die Stille kroch Louise unter die Haut. Los, krieg den Mund auf, du musst dich behaupten! Doch was sollte sie sagen? Das Papier begann unter ihren Fingern aufzuweichen, sie sah hinab, aber die Blätter hatten keine Antwort. Wie weit hatten sie gedacht? Die Sonne schien und schien, Zeit floss träge dahin und noch immer nichts gesagt. Louises Kopf war leergefragt, wenn dort je etwas gewesen war, außer großen Worten für die Zukunft von morgen. Sie durchforstete alle Winkel ihres Kopfes, wollte sich am Schopf packen und schütteln. Doch die Blicke nagelten sie fest in der Lächerlichkeit, während sie schmolz, ihre Schlagfertigkeit zerrann. Die Zeit jedoch rieselte in aller Seelenruhe.

»Die hat nichts zu sagen!«, lachte es stumm von allen Seiten. Zu Louises Stolz entwich ihr, wenn schon nichts, dann auch kein »Äh« oder halbes Gestammel, an diesem Trost hielt sie sich fest, aber Seifenwasser floss herab und spülte sie fort, bis sie ertrank. Nerven blank. Sie nackt, während sie mit Armen und Beinen strampelte, Antworten zu formulieren versuchte, die ihr sofort aus glitschigen Fingern entwischten – Louise fehlten die Worte und gerade als ihr Schweigen den Raum zu sprengen schien, breitete sich Gemurmel aus, denn die unausgesprochene Antwortfrist war verstrichen. Louise war erlöst und erniedrigt und die Horde suhlte sich in Häme.

Louise ließ den Rest der Sitzung über sich ergehen. Die Sonne verschwand hinter einem Hausdach. Es wurde kühler im Raum und trotzdem hatte sie das Gefühl zu ersticken. Als Herr Heuchler schließlich das Ende der Sitzung verkündete, scherte sie sich nicht darum, ob man sah, dass sie floh, sie floh, die Treppen herab, durch die Eingangshalle und hinaus in den grauen Abend. Sie hatte ihre Handschuhe an der Garderobe vergessen. Egal. Sie hatte ihre Würde oben im Saal liegen lassen. Egal. Sie würde ja nächste Woche wiederkommen. Diese Aussicht hatte allen Reiz, den sie heute Morgen noch gehabt hatte, verloren.Die Straßenlaternen gingen an und ein halbleerer Bus fuhr vorbei, dessen Tickets wohl für immer fortbestehen würden zusammen mit all den Minitragödien des Alltags, die sie mit sich brachten. Louise sah dem Bus nach, bis er an der nächsten Haltestelle hielt und vereinzelte Gestalten ausstiegen. Mit klammen Fingern schloss sie ihr Dienstrad los, setzte den Helm auf. Einige der werten Herren kamen in schicken Mänteln aus der Eingangstür. Louise schwang sich aufs Rad. »He!«, rief jemand, doch sie wandte sich nicht um, wollte nur weg, trat mit aller Kraft in die Pedale, rutschte wegen ihrer glatten Sohlen fast ab. »Das war ganz schön mutig!«

Der Bahnhof war nicht weit entfernt. Nachdem Louise ihr Rad geparkt hatte, lief sie die Treppen hinab in den S-Bahn-Geruch hinein. Sie zog sich ein Ticket: 5,50 €. Verdammte 5,50 € für die halbe Stunde Fahrt. Sie hätte gerne gegen den Automaten getreten, aber ein Bahnbeamter stand in der Nähe und außerdem hatte sie die falschen Schuhe an. Die schicken, wegen der Sitzung. Er schluckte ihren Fünferschein nicht. Sie kramte nach Kleingeld, wobei ihr die Hälfte mit lieblichem Klingling zu Boden fiel. Die Köpfe der Passanten in zwanzig Metern Umkreis drehten sich in ihre Richtung. Ein Atemzug der Tunnel, abgestandene warme Luft, wehte ihr durch die Haare, während der Automat vor sich hin hustete. Sie ließ die Münzen auf dem Boden liegen. Keine Lust, sich zu bücken und dort herumzutatschen. Vielleicht würde sich ein Penner drüber freuen.Backwarenduft drang Louise in die Nase, sie hatte keinen Hunger. Beim Neujahrsempfang hatten sich alle mit Brezeln vollgefressen. Sie entriss dem Automaten das Ticket, stopfte es in ihre Tasche und lief zum Gleis.

Zuhause angekommen fiel Louise kraftlos aufs Sofa, wo sie eine ganze Weile liegen blieb. Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen, die mit einem dumpfen Klunk auf dem Teppich landeten. Wunderbar ist das gelaufen. Louise wollte nach ihrem Handy greifen, doch besann sich eines Besseren. Vermutlich wurde sie auf Twitter gerade in Stücke gerissen. Sie sank tiefer in die Kissen, hatte sich nicht damit aufgehalten, das Licht einzuschalten, lag da, genoss die Dunkelheit ihrer Wohnung. Sie machen das schon, hatten ihre Parteikollegen gesagt. Aber mit so viel Gegenwind hatte Louise nicht gerechnet. Gehässigkeit. Wie konnte Lachen nur so hässlich sein? Louise klang es in all der Stille noch immer furchtbar laut in den Ohren. Gott, und ihr Schweigen erst! Mit einem Mal war es Louise selbst jetzt, in ihrer eigenen Wohnung, unangenehm. Sie schluckte. »Warum nur hab ich nichts gesagt?«, fragte sie. Ihre Möbel fraßen die Worte. »Warum?«, probierte sie es lauter. Eine einzelne Frage hatte all ihre Schlagfertigkeit, wenn sie denn je welche besessen hatte, augenblicklich verdampfen lassen. Immerhin war der Vorschlag, der konzeptlose, nun sicher in aller Munde – und ihr Gesicht damit verknüpft. To l l e Strategie. Ihr Handy klingelte. »Lou, er wird mir soo fehlen!«, jammerte Nora ihr ins Ohr. Für einen winzigen schamvollen Moment verspürte Louise den Impuls, sofort wieder aufzulegen, andererseits kam ihre Freundin wie gerufen.

 

»Maik?«, fragte Louise. »Was? Nee, mit dem hab ich vorgestern Schluss gemacht«, sagte Nora. »Endlich«, rutschte es Louise über die Lippen, »das hast du gar nicht erzählt!« »Ist auch nicht so wichtig…« Louise hörte, wie Nora durch ihr Zimmer tigerte. Sie seufzte. »Dann haben wir ja beide einen tollen Tag hinter uns.« »Ach stimmt! Heute war deine Sitzung«, am anderen Ende erklang das unverwechselbare Knautschen von Noras Couch. »Sorry, hab ich ganz vergessen. Erzähl, war’s so schlimm, wie du dich anhörst? «Louise setzte sich auf. »Ich habe unsere Idee eines Nulltarifs vorgestellt und die ganze Runde hat mich ausgelacht.« »Was? Und die nennen sich zivilisierte Menschen?«, rief Nora. Ihre Entrüstung tat gut, brachte Louise fast zum Lächeln. Aber in irgendeiner Ecke ihres Kopfes hatten sich letzte Echos in ihren Hirnwindungen verfangen, gefolgt von schallender Stille. »Das war nicht mal das Schlimmste«, erzählte sie. »Eine ältere Dame hat nachgefragt, was für ein Gesamtkonzept wir hätten…« Ihre Stimme verlor sich in der Leitung. »Und was hast du geantwortet?«, fragte Nora. »Ach, ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist.« »Aber ihr habt ein Gesamtkonzept, nehm ich an.« »Ja schon, wir haben einen Plan, noch nicht so ausgereift zwar –« »Erzähl mir nicht, dass du nichts gesagt hast«, unterbrach Nora sie. Louise fummelte am Lichtschalter der Lampe herum, knipste sie an. Zu grell, knipste sie aus. »In meinem Kopf war alles plötzlich weg!«, versuchte sie zu erklären. Könnte ich nur auch so entwaffnende Worte finden. Sie sah den durchdringenden Blick der älteren Dame vor sich. Alle hatten zugehört. »Gott, ich hab mich so dumm gefühlt, als ich da stand, angegafft, das kannst du dir nicht vorstellen.« »Mädchen, du brauchst zum Reden doch auch den Mund und nicht deinen Kopf!« »Danke für den Rat«, erwiderte Louise, harscher als gewollt. »War nicht böse gemeint«, murmelte Nora. »Ich weiß, ist schon gut.« Louise schaltete das Licht ein, stand auf und hob die schicken Schuhe vom Boden auf. »Vielleicht hast du recht und ich sollte nicht zu viel nachdenken.« »Und ob, einfach machen!« »Einfach machen«, wiederholte Louise, trug die Schuhe zur Garderobe. »Ey, ihr habt Ideen, die es sich durchzusetzen lohnt!«, sagte Nora. »Vielleicht ein bisschen gewagte«, lachte sie vorsichtig, »aber das wird schon!« »Hm«, Louise dachte an all die Hürden und schon jetzt schmerzten ihre Füße. »Denk gar nicht dran, dich einschüchtern zu lassen oder dich anzupassen, ja?« »Mhm.« Louise warf einen Blick in den Spiegel. Sie musste unbedingt das Seifenzeug aus ihren Haaren waschen. Nora klang so motiviert, aber sie hatte heute nicht da gestanden und in Spott gebadet. Sie war als Kind nicht x-mal beim Schwarzfahren erwischt worden, weil sie verdammt einfach kein Geld gehabt hatten. Für Nora war das alles nur eine grüne Zukunftssache, aber für Louise…

»Was meintest du vorher, wen wirst du vermissen?«, fragte sie. »Snoopy, im Tierheim«, antwortete Nora, »wir haben ein Herrchen für ihn gefunden.« »Echt?« Louise lief in die Küche und machte sich ein Abendessen, während Nora von den Tieren schwärmte und von ihrem neuen Kollegen. Louise erwischte sich dabei, wie sie abdriftete, lustlos ihr Vollkornbrot und in Gedanken die Situation wiederkaute. Jetzt kam ihr natürlich in den Sinn, was sie hätte sagen müssen, sie hätte – Nein. Nora redete gerade! Wenn Louise sich wünschte, ernst genommen zu werden, dann wollte sie auch anderen zuhören.

»Hier«, der gutaussehende junge Mann, der im Ausschuss drei Plätze weiter rechts gesessen hatte, hielt Louise ihr vergessenes Paar Handschuhe hin. Sie standen sich im Flur gegenüber. »Äh, danke.« Sie nahm sie entgegen. »Einfach nur Tom«, er hielt ihr die Hand hin. Drei Plätze weiter rechts… das hieß, er gehörte einer ganz anderen Partei an, aber egal. Sie packte die Handschuhe in ihre Tasche und schüttelte seine Hand. »Nulltarif, das war echt ein guter Witz«, lachte er und seine blauen Augen funkelten. Alle Sympathie, die sich eben angebahnt hatte, zerbrach in kleine Stücke, bis nur noch ein bisschen Staub auf dem Flurboden herumlag, den die nächste Reinigungsfachkraft gekonnt beseitigen würde. Ihr Gesichtsausdruck vereiste, oder zumindest hoffte Louise, dass es so wirkte. Sie war noch nicht geübt darin, diese Gesichter zu machen, die die Herren immer machten. »Das war kein Witz«, erwiderte sie und schob sich an Einfach-nur-Tom vorbei. »Oh«, er lief ihr nach. »Tut mir leid. «Sie eilte strammen Schrittes weiter. »Warten Sie! Dann war das richtig mutig! «Sie blieb stehen. Sie standen sich im Flur gegenüber. »Das war echt mutig, sich da hinzustellen und Ihre –«, er schien ein Wort im letzten Moment aus dem Satz zu streichen, »… Idee vorzustellen, das könnte ich nicht.« »Danke«, sagte Louise, »dann werden Sie uns sicher unterstützen?« Tom lachte unsicher, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zu meinem Bedauern hat meine Partei andere Pläne.« Er legte ihr sacht eine Hand auf den Arm. »Sie wissen doch, dass das nichts werden kann, oder?« Er hatte echt blaue Augen und sein Anzug saß perfekt. Louise wollte sich umdrehen und gehen.»Dürfte ich Sie auf einen Kaffee einladen, Ihnen ein paar Kniffe zeigen? Die hätte ich gut gebrauchen können, als ich noch neu war.« »Nein, ich weiß, was ich tue«, das hätte sie gerne erwidert. Oder wusste vielmehr die Partei, was sie tat, und stellte Louise bloß als Maskottchen an vorderste Front? Ein junges, weibliches Gesicht frischer Ideen. Sie biss sich auf die Lippe und schwieg, während Tom sie erwartungsvoll ansah. Zwei Anzugträger liefen an ihnen vorbei. Der eine blickte über die Schulter, musterte Louise und raunte dem anderen etwas zu. Louise wäre gern verschwunden. »Kaffee klingt toll!«

»Hey!« Sie waren die letzten beiden, die den Sitzungssaal verließen, das hatte sich ganz zufällig so ergeben. Wieder einmal. Louise beeilte sich, wegzukommen. Einfach-nur-Tom hielt ihr die Tür auf. »Eine gute Rede war das vorhin, ehrlich. Da werden wir uns echt was einfallen lassen müssen, um das zu entkräften!« Ignorieren!, dachte sich Louise, aber sein Blick nahm sie gefangen, er lächelte sie an. »Danke«, erwiderte sie, innerlich seufzend. Vielleicht suchte sie einfach viel zu sehr nach Rückhalt und Anerkennung in anderen Fraktionen, selbst wenn diese nur gespielt waren. Toms Mundwinkel gewannen an Höhe und zogen sich weiter auseinander, breiter und breiter. Wie eine Kröte. Dieser Froschprinz… Sie betrachtete Toms Gesicht und er schaute freundlich zurück. Sie atmete durch. Das war die Gelegenheit, oder? Einfach machen. Louise gab sich einen Ruck. »Stehst du im Guinnessbuch der Rekorde für das gefakteste Lächeln der Welt?«, fragt sie, ohne sich zu verhaspeln. Toms Mundwinkel zuckten, sein Lächeln noch breiter, nur seine Augen machten nicht ganz mit. »Für den Satz standen Sie lange vorm Spiegel, oder?« Er lachte. »Süß.«

Louise stand sprachlos da. In keinem der zig durchdachten Gespräche hatte er das erwidert. Sie schwieg ihn an, der da grinste. »He, Ihr Gesicht…!«, sagte Tom voll Überraschung. »Was ist damit?«, sprach sie die Worte aus, die er ihr in den Mund gelegt hatte. »Zum einen ist es sehr hübsch, aber ich kann gar nicht darin lesen, was Sie gerade denken.« Fasziniert strich er mit einem Finger über ihre Wange, als wollte er deren Echtheit prüfen. »Wie haben Sie das denn hingekriegt? Respekt.« Eine winzige Geste und Louises Wange glühte, sprühte Funken, die den Teppich versengten. Aschefetzen ihrer verbrannten Fassung schwebten zu Boden. Einst feste Grenzen erbebten. Was war DAS? Tom lachte leise. »Jetzt noch viel weniger.« Er schnippte sich Asche vom Anzug, hob die Hand zum Abschied und schlenderte Richtung Aufzug davon.

Vor fünf Jahren war das alles. Und jetzt? Louise öffnete ihren Kleiderschrank, ließ den Blick über Blusen, Jeans und Blazer gleiten, was war dem heutigen Tag angemessen? Die weiße Weste hing nicht mehr dort, die hatte sie vor kurzem verkauft. Sie fuhr per Taxi durch die Stadt. Seltsam, das eigene Gesicht überall auf Wahlplakaten zu sehen. Am Straßenrand lag grauer Schnee, aber die Sonne blinzelte zwischen ein paar hohen Häusern hindurch. Als sie durch die Drehtür ins warme Foyer trat, sah sie Tom bei seinen Parteikollegen und musste ihren Würgereiz unterdrücken. Louise durchquerte die Halle, wobei ihre Absätze auf den glatten Boden schlugen, so vergeblich sie auch zu schleichen versuchte. Abgeordnete und Journalisten streunten herum. Sie meldete sich am Empfang und lief in den Sitzungssaal, ohne Tom eines Blickes zu würdigen. Zum Glück hatte er sie nicht bemerkt. Heute war die Abstimmung. Endlich. Louise sah auf die Uhr, noch genug Zeit. Sie machte sich auf den Weg zur Toilette. Fünf verdammte Jahre hatte sie ihre Arbeit da hineingesteckt und die Abläufe hatten sich quälend in die Länge gezogen: Umstürze, zahllose Entwürfe und endlose Debatten, Geschrei, Gezeter, vehemente Gegner, destruktiver Spott, aber auch die konstruktivste Kritik, die Louise je gehört hatte. Ihr Vorschlag, ja Louise persönlich war bedroht worden. Sie hatte auch gedroht (was sie aber lieber in eine einsame Gegend ihrer Gedanken verdrängte). Das war nun ihre erste Amtszeit gewesen, aber sie würde sich weder wundern noch beklagen, falls sie in ein paar Jahren zu einem Tom geworden war. Ihr Versuch zu überzeugen war auf festgefahrene Überzeugungen gestoßen, doch wenigstens war ihr Vorhaben nicht verwässert worden. Sie wollten keinen Kompromiss, denn kostenlos hieß null. Nichts, und kein Cent mehr! Und jetzt stand und fiel alles mit dem heutigen Tag. Schon den ganzen Morgen pochte ihr Herz.

Als Louise wieder von den Toiletten kam und die Tür mit einem sanften Klicken hinter ihr zufiel, das Geräusch der Händetrockner verstummte, erstarrte sie. Tom lehnte dort vorn an der Wand, scheinbar in sein Handy versunken, doch als hätte er sie gewittert, sah er auf und steckte es weg. »Hey.« Wenn er ihr aufgelauert hatte, war es nicht das erste Mal. Louise sah sich um, niemand da. Shit, was wollte der Schakal denn schon wieder, die hatten doch längst verloren. »Ihr wisst, dass es unmöglich ist. Das ist reiner Wahnsinn, das kann man nicht finanzieren!«, rief Tom, stieß sich leicht von der Wand ab. »Dafür wurde ich gewählt«, erwiderte Louise, löste sich aus der Starre. Es führte wohl kein Weg an ihm vorbei, zwar hatte sie nicht wirklich Angst, aber…  Acht Schritte vor ihr im Gang stand Tom. Blaue Augen funkelten ihr entgegen, glänzende Lederschuhe. Sie lief den Flur entlang, auf ihn zu. Schwaden seines Parfüms wallten ihr in die Nase. Schakal mit gegeltem Fell. Etwas lief sein Gesicht herunter wie Tränen und sie stutzte, aber es waren bloß Bröckel seiner Maske, die langsam Risse bekam und auf den Boden rieselte. Darunter lag ein weiches Gesicht. Ein wenig blass, mit matten blauen Augen. Hatte wohl lange nicht die Sonne gesehen. »Ach«, schnaubte der Schakal. »Stell dir vor«, sprach er, »ich wurde auch mal für etwas gewählt. Ist gefühlt schon ewig her, vielleicht vergisst man mit der Zeit, für was?« »Und, soll ich jetzt Mitleid haben?«, fragte Louise, sah sein Gesicht, seine Schnauze, entblößte Zähne. Atem angehalten, würde er zur Antwort nach ihr schnappen? Absätze klackend stahl sie sich an Tom vorbei, nichts geschah? Zwei Schritte trennten sie, drei, vier, fünf. Maskenbröckel knirschten unter ihren Sohlen. Was sie immer für Dreck im Flur hinterließen. Sie spürte seinen bohrenden Blick, der ihr genau zwischen die Schulterblätter stach. »Sie wollen doch das Land in den Ruin treiben!«, rief Tom ihr hinterher. Wieso war der Flur nur so lang? Da – Schritte! Er folgte ihr. Louises Hand fuhr in ihre Tasche, tastete nach ihrem Handy. Seine Schritte, immer lauter. Eine Hand packte sie an der Schulter, zwang sie stehenzubleiben. Sie starrten sich an. »Was soll das, Tom?«

Sie sah in seine Augen, farblos waren sie, regenverhangen. »Entweder man gibt auf, oder man lernt diese Art«, sagte er, fast entschuldigend. Er war nah, viel zu nah, sein Griff zu fest und sein Atem auf ihrer Haut. »Lass mich los!« »Nein, Sie werden den Entwurf zurücknehmen!«, zischte Tom. Seine gepflegten Fingernägel gruben sich unter ihr Schlüsselbein, vergeblich versuchend, an beschlossener Sache zu rütteln. »Sie gehen zu Ihrem Chef und fordern eine Verschiebung, alle wissen, dass man es nicht finanzieren kann!« »Wenn das so ist, haben Sie die Abstimmung ja nicht zu fürchten«, sagte Louise. Ihre Finger bekamen den Lippenstift in ihrer Tasche zu fassen. Sie zog ihn heraus und malte sich das netteste Lächeln auf die Lippen, das sie ohne Spiegel hinbekam. »Und um ihre Zukunft hier werden Sie sich auch keine Sorgen machen müssen, wenn ich Sie wegen Belästigung anzeige.« Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht Verunsicherung, oder war das schon Panik? »Lassen Sie mich los.« Louise wollte weiter, doch Toms Finger krallten sich in ihre Schulter. Erst mit Nachdruck, dann, als würden die Finger vor ihrem Besitzer begreifen, dass es vergeblich war, schwand ihre Kraft, bis Toms Hand schlaff herabfiel. Doch seine Pfoten hinterließen noch lange einen klammen Abdruck auf ihrer Haut. Wenigstens konnte sie wieder atmen. Ein Gong ertönte über die Lautsprecher, das Signal zum Sitzungsbeginn. Ihre verhakten Blicke lösten sich.

Als Louise den Saal betrat, kam sie gerade noch rechtzeitig. Sie setzte sich auf ihren Platz. Vorne stand Herr Glatzkopf, klopfte auf sein Pult, woraufhin sich die Anwesenden in der großen Runde auf ihre Plätze setzten und die Gespräche einstellten, großteils zumindest. Der Vorsitzende warf ihr einen Blick zu, als habe er auf sie gewartet. Kurz kam seine Stirn ins Runzeln, musste am ungewöhnlichen Lippenstift liegen. »Heute auf der Tagesordnung«, verkündete er, »die Abstimmung zum Nulltarif-ÖPNV-Vertrag.« In einigen Fraktionen gab es Kopfschütteln. Toms Platz war leer und sollte es bleiben. »Des Weiteren…« Louise hörte nicht zu, denn der Rest war im Moment ein bisschen egal, dafür war sie damals nicht gewählt worden. Die Wintersonne schien durch die hohe Glasfront. Louise warf einen Blick hoch zu Nora auf der Zuschauerbank, dann blickte sie über die Reihen von Anzugträgern, von denen manche aus Langeweile an ihren Gläsern mit Mineralwasser nippten. Louise zupfte an ihrer Bluse, ihr war warm. Sie griff nach dem blitzblanken Glas auf ihrem Tisch und trank einen Schluck, reihte sich ein in den Reigen aus Mineralwassersippern. Ein Prickeln durchlief sie von Kopf bis Fuß, ein Zittern, während vorn letzte Vorbereitungen für die Abstimmung getroffen wurden. Noch vor fünf Jahren hatten die werten Herren sie ausgelacht. In zwanzig Minuten würde man die Stimmen auszählen.

Collage von Leonie Bucher.